China trumpft auf, Europa schaut zu – ein Reisebericht von Patrick Picenoni

Viele Beobachter sehen die globale Konjunktur-Zugmaschine China in akuter Gefahr. Verübeln kann man ihnen das kaum. Tatsächlich wächst das Riesenreich seit einigen Jahren spürbar weniger schnell als zuvor. Eine erdrückend hohe Schuldenlast sowie eine Fülle an faulen Krediten bei einer Reihe von Staatsfirmen aus kaum zukunftsfähigen Industriezweigen sorgen für zusätzliche Skepsis unter Investoren. Wahr ist: Für die Weltwirtschaft ist China zurzeit wichtiger denn je. Wahr ist aber auch: Der Rest der Welt wird für das künftige Wachstum Chinas weniger relevant sein.

Keine Frage: Die von Staats- und Parteichef Xi Jinping mit dem Label „Made in China 2025“ versehene Umstellung von einer Export- und Volkswirtschaft auf mehr Inlandsnachfrage und mehr technologiegestützte Geschäftsmodelle ist ein enormer Kraftakt. Doch die Umstellung wird – wie die meisten Wirtschaftsreformen in der 70 Jahre jungen Volksrepublik – schlussendlich gelingen. Denn bei diesem Wandel hat China zwei im Westen oft übersehene Asse im Ärmel: „Künstliche Intelligenz“ (Artificial Intelligence, kurz: AI) und das „Internet der Dinge“ (Internet of Things, kurz: IoT). Wer genau hinschaut, erkennt: Chinesische Unternehmen überflügeln in beiden Disziplinen oft bereits heute das amerikanische Silicon Valley, wenn es um Erfindergeist, Geschwindigkeit und Ertragskraft geht. Die rasant wachsende technologische Vernetzung von Hunderten von Millionen Bürgern verleiht diesem Trend zusätzlich Tempo.

Vor einigen Wochen war ich selbst in China unterwegs, um besser zu verstehen, wie es hier um die Wirtschaft allgemein und im Speziellen um Innovation rund um die zwei „Asse im Ärmel“ bestellt ist. Denn beiden Bereichen – also AI und IoT – messen wir im Rahmen einer unserer drei bis fünf wichtigen strategischen Investment-Themen eine zentrale Rolle für die Zukunft bei. Mein Eindruck vor Ort: Viele Dinge diesbezüglich sind in China– dank der tatkräftigen Unterstützung von staatlicher Seite – heute selbstverständlich, die wir Europäer noch für pure Science Fiction halten.

 

Robots looking at laptop screen with open books, artificial intelligence, big data and deep learning concept

Ein kurzer Blick zurück erklärt verblüffender Weise, weshalb China gegenüber Europa in diesen Belangen so weit voraus ist. Lange Zeit hatte die Bevölkerung, insbesondere außerhalb der dicht besiedelten Metropolen, wenig Alternativen, als Waren übers Internet zu bestellen. Für viele Unternehmen wäre ein physisches Ausrollen ihrer Infrastruktur – also der Aufbau eines weit verzweigten Filial- und Niederlassungsnetzes – aufgrund der schieren Größe des Landes ökonomisch zudem nicht sinnvoll gewesen. Als Folge übersprang der Einzelhandel in China eine komplette Entwicklungsstufe: Der stationäre Verkauf erlangte niemals jene Bedeutung, die er in den „alten“ Märkten wie Europa oder den USA einst innehatte. Ähnliches gilt für andere Bereiche: Auch bei Finanzdienstleistungen galt und gilt in China die Devise: online first!

Heute hat China über 800 Millionen Internet-Nutzer. Die überwältigende Mehrheit, weit über 500 Millionen, bestellen und bezahlen ausschließlich online – viele davon zudem mobil. Die Gründe für diesen Vorsprung gegenüber der „Alten Welt“ und gegenüber Nordamerika sind auch eine Mentalitätsfrage: China verfügt über eine grundsätzlich technologie-affine Bevölkerung und damit potenzielle Kundenschar, eine schnell wachsende Menge an Daten sowie ein grundlegend anderes Verständnis hinsichtlich des Schutzes von persönlichen Daten inklusive der Privatsphäre – wie auch immer man aus westlicher Sicht dazu stehen mag. Last but not least sehen Chinesen im Bereich von Künstlicher Intelligenz vor allem die Chancen – insbesondere in ökonomischer, aber auch militärischer Hinsicht – und weniger die Risiken.

Wie weit uns China in diesen Belangen voraus ist, zeigen dem aufmerksamen Besucher alleine das Straßenbild und kurze Unterhaltungen mit Chinesen recht schnell. Es scheint so, als würden alle die Errungenschaften der Digitalisierung geradezu verehren: Das Alltagsleben spielt sich gleichzeitig und übergangslos sowohl in der wirklichen als auch in der virtuellen Welt ab. Vom täglichen Einkauf über Essensbestellungen, der Nutzung des Nahverkehrs, dem Austausch von Meinungen und Mitteilungen, dem Tätigen von Überweisungen oder der Geldanlage: Alles findet im Netz und zumeist mobil statt, oft simultan zum Restaurantbesuch oder in Meetings. Chinesen sind extrem experimentierfreudig und bezahlen, anders als wir, bereitwillig für diese Dienstleistungen. Banktransaktionen, die Aufnahme von Krediten oder der Abschluss einer Versicherungspolice gehen in China wie selbstverständlich und binnen weniger Minuten über die Bühne.

Um diesen Eindruck zu vertiefen und hinter die Kulissen zu schauen, war ich unter anderem beim E-Commerce Unternehmen Alibaba eingeladen. Hier wurde der Vorsprung noch einmal beeindruckend offengelegt, wie folgende Beispiele stichpunktartig zeigen:

    1. Alibaba hat sich ähnlich wie andere nationale chinesische Champions (beispielsweise Tencent, Baidu oder NetEase) über das Angebot verschiedenartiger Dienstleistungen und Produkte sowie den Einsatz immer leistungsstärkerer AI-Algorithmen ein eigenes, digitales Ökosystem aufgebaut.
    2. Der Konzern unterhält eine Vielzahl von Geschäftseinheiten, ist aber vor allem als weltgrößter Einzelhändler bekannt: Am so genannten „Single Day“ – einem Feiertag, den Alibaba maßgeblich mit groß gemacht hat – setzte das Unternehmen zuletzt alleine über 25 Milliarden US-Dollar um. Zum Vergleich: Sämtliche Onlinehändler in den USA setzten am letzten „Cyber Monday“ nicht einmal 10 Milliarden US-Dollar um.
    3. Alibaba ist weit mehr als ein reines E-Commerce Unternehmen: Eine Vielzahl von zusätzlichen Dienstleistungen, insbesondere im Finanzbereich, werden angeboten und abgewickelt. Die vor ein paar Jahren gegründete Fintech-Tochtergesellschaft Ant Financial (vormals Alipay) hat bereits eine Bewertung von über 150 Milliarden US-Dollar. Deren Geldmarktfonds „Tianhong Yu’e Bao“ ist der größte der Welt. Circa 600 Millionen Nutzer haben ihn oft mit Minimalbeträgen auf ihren Kundenaccounts fast über Nacht dazu gemacht.
    4. Der Dienst „Sesame Credit“ von Ant Financial ist ein Credit-Rating-Scoring-System. Unendliche Mengen an Daten von Alibabas Nutzern (ob Konsumenten, Marktplätze oder andere Alibaba-Unternehmen und -Services) fließen in das computergesteuerte Rating ein. Dazu kommen öffentlich Daten der Regierung – ob es um die Identifizierung oder andere in westlichen Ländern hoch vertrauliche Daten geht. Damit können Kredite innerhalb von Sekunden, alleine vom Computer, vergeben werden.

Viele weitere Faktoren und Beispiele könnten hier aufgeführt werden. Fest steht für mich: Chinesen sind pragmatisch denkende Menschen. Solange der Service gut ist, der Preis stimmt und es ihnen sowie ihren Kindern dadurch besser geht (und dem Westen dadurch die Kraft des wieder erstarkten Chinas aufgezeigt werden kann), werden derartige Dienste gerne in Anspruch genommen und bedenkenlos vergütet.

Für uns als Investoren bedeutet das: Chinas Wirtschaftswachstum sollte mittel- und langfristig Unterstützung finden. Wenn wir in Zukunftstechnologien rund um AI und IoT investieren wollen, kommen wir an China und an den dort ansässigen Firmenchampions nicht vorbei. Dies gilt nicht für die hier besprochenen Themen, sondern auch in anderen Sektoren, ob dies die E-Mobilität im Fahrzeugbereich oder den technologischen Fortschritt in der Medizin und im Gesundheitswesen betrifft. Viele künftige Weltkonzerne aus diesen Branchen werden nicht mehr unbedingt aus Europa und USA, sondern insbesondere aus dem Reich der Mitte stammen. Bei Zukunftsthemen wie AI und IoT wird es die „alte Welt“ immer schwerer haben, denn ihr fehlt nicht nur der politische Wille und die gesellschaftliche Weitsicht, sondern auch die Durchsetzungskraft, um die Bereiche auch infrastrukturseitig (Forschung, Geldmittel, Arbeitsplätze) attraktiv zu gestalten.

Die USA können sich zumindest noch zugutehalten, hier als Konkurrent Chinas zu gelten. Von uns Europäern will ich gar nicht sprechen. Dass wir hinterher hinken, wäre freundlich formuliert –  setzt es doch voraus, dass wir uns überhaupt bewegen!

 


Autor: Patrick Picenoni(Gründer Altrafin / Fondsmanager CONREN)

 


Bildnachweis: Photos by Stefan Pick, josefkubes and zhang kaiyv