CONREN-Kolumne: Totgesagte leben länger

Theorien, wonach die Inflation tot ist oder Zinsen alleine aufgrund der hohen Verschuldung vieler Länder nie wieder steigen, sind nicht nur unrealistisch: Für allzu sorglose Anleger können sie sogar brandgefährlich werden.

Wir haben uns so sehr an niedrige Inflation gewöhnt, dass wir diese einfach in die Zukunft extrapolieren. Wir suchen nach Theorien, die diesen Wunsch untermauern. Sogar wir Deutschen scheinen die typische Angst vor der Teuerung abgelegt zu haben. Das hat der Aufschrei von Ökonomen, Presse und Politikern hierzulande gezeigt, als die Europäische Zentralbank nach der Finanzkrise alle Geldhähne aufdrehte, die Zinsen in den Keller schickte, der durchaus gewollte Inflationsanstieg aber dennoch ausblieb – zumindest bisher.

Gerade, weil wir uns an niedrige Inflation, niedriges Wachstum und tiefe Zinsen gewöhnt haben, wären plötzliche Inflationsausschläge eine Gefahr für Ökonomie und Märkte. Eine zentrale Frage ist daher, wie lange die vielen preissenkenden Faktoren die Inflationserwartungen noch dämpfen. Zuvor gilt es zu ergründen, weshalb die Inflation – zumindest in der offiziellen Version – so niedrig ist.

Auch in der Vergangenheit hat es längere Phasen von niedriger Inflation und niedrigen Realzinsen gegeben. Weil die weltwirtschaftliche Lage seit einigen Jahren mitunter positiv ist und die Inflation dennoch schwach ist, bezweifeln nicht wenige, dass die Teuerungsrate in ihrer jetzigen Berechnungsform Inflationskräfte verschleiert. Die gefühlte Inflation ist höher. Auch gehen zwar die Kosten für die Lebenshaltung und den Konsum in den zugrunde liegenden Warenkorb ein; die Verteuerung von Vermögensgütern hingegen nicht, obwohl die Preise für Aktien, Anleihen, Häuser, Kunstgegenstände und Ähnliches in den letzten Jahren rapide gestiegen sind. Technologisch bedingte Qualitätssteigerungen, beispielsweise dank leistungsfähigerer Computer, werden seit den 1990er Jahren in den USA (und seit 2002 in Deutschland) in die Inflationsberechnungen einbezogen – was die offiziellen Daten erheblich senkt.

US-Realzinsen: niedrige Zinsen sind nicht total neu

Quelle: http://www.primeeconomics.org

US-Inflationsraten seit dem 17. Jahrhundert: schwer zu managen

Quelle: Wikipedia EN

Ganz abgesehen von Berechnungsweise und Basis gibt die offizielle Inflationsrate wegen ihrer Winzigkeit weitere Rätsel auf, die aufgrund der Komplexität des Themas nicht leicht zu entschlüsseln sind. Auf der einen Seite hat neben der Globalisierung sowie dem Handelsstufen ausschaltenden und Preisvergleiche vereinfachenden Internet eine neue Innovationswelle in der Automation preisdämpfende Wirkung. Innovationen im Energiebereich wie das „Fracking“ sowie die Ausbeutung ölhaltiger Schiefersände halten zudem die Rohstoffpreise am Boden. Auf der anderen Seite wirken unter anderem der synchrone weltweite Wirtschaftsaufschwung und der global anziehende Kreditzyklus eindeutig inflationär.

Die Angst vor Geldentwertung (denn nichts anderes bedeutet Inflation) hat sich dennoch verflüchtigt. Zugleich spiegeln die gemäßigten Inflationserwartungen der Marktteilnehmer die Zielsetzung der Notenbanken wider – und belegen damit das hohe Vertrauen in die Währungshüter, wenn es um Inflationsbekämpfung geht. Aber ist es auch gerechtfertigt? Die Geschichte hat mehrfach bewiesen, wie schwer Inflation zu managen geschweige denn künstlich zu „erzeugen“ ist. Sie entwickelt sich keineswegs linear – zum Beispiel in Abhängigkeit von der Geldmenge – sondern tendiert zu Sprüngen. Im Grunde ist es wie bei einer vollen Flasche Ketchup: Man klopft auf den Boden, schüttelt – und es passiert rein gar nichts. Nach einer Weile greift man zu drastischeren Hilfsmitteln wie einem Messer, stochert im Flascheninneren herum, und wenn man schon fast verzweifelt, bedeckt die rote Soße plötzlich den ganzen Teller.

Die lange vermisste Teuerung könnte also schneller kommen, als manchem lieb ist – und heftiger: Die verbesserte Gewinnlage der Unternehmen könnte rasch zu steigenden Investitionen führen. Vor allem in den Emerging Markets sind deflationäre Überkapazitäten in der industriellen Fertigung in den letzten Jahren abgebaut worden. Auch höhere Lohnsteigerungen – Preistreiber par excellence – sind nach längerer Abwesenheit mittelfristig denkbar. Dazu hilft ein Blick auf die Art und Weise, wie und warum Menschen ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen: In den ökonomisch schwierigen Zeiten nach der Finanzkrise hatten viele die Jobsuche aufgegeben. Sie kehren nun teilweise in den Arbeitsmarkt zurück. Hinzu kommt, dass Leute, die nicht unbedingt arbeiten wollen oder müssen, in Zeiten hohen Wirtschaftswachstums ebenfalls dazu neigen, ihre Arbeitsleistung zur Verfügung zu stellen. Beides verringert für eine Weile – aber nicht für immer – den Lohndruck, trotz Arbeitsplatzzahlen nahe von Vollbeschäftigung.

Neben der Lohnentwicklung…

Quelle: Bloomberg

…ist auch zu beobachten wie viel Menschen am Arbeitsleben teilhaben „möchten“.

Quelle: Bloomberg

Wenn die Inflation steigen sollte, wird den Notenbanken alsbald nichts anderes übrig bleiben, als die Zinsen anzuheben. Eine unglaubwürdige Inflationsbekämpfung hätte möglicherweise verheerende Auswirkungen – in Form von Vertrauensverlusten in die Unabhängigkeit und den Handlungswillen der Währungshüter. Rasch könnte die Mini-Inflation weitere Anstiege der Teuerung nähren, wobei hier die Psychologie eine wichtige Rolle spielt, indem die Marktteilnehmer ihre Inflationserwartungen für die Zukunft nach oben anpassen. Das Resultat: Sie geben mehr Geld aus oder investieren mehr, und zwar aus ein und demselben Grund. Sie wollen nicht langfristig auf einem sich entwertenden Papier sitzen bleiben. Entsprechend steigt die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes, was wiederum den Weg frei macht zu einer höheren, wenn nicht gar einer deutlich höheren Inflation.

Eine im finanzhistorischen Vergleich betrachtet nur moderate Zinserhöhung hätte also nachhaltige Auswirkungen auf Wirtschaft und Märkte: Bei Renditen von drei bis vier Prozent für zehnjährige US-Staatsanleihen würden diese wieder zu einer ernstzunehmenden Option. Das würde unter anderem heißen, dass es doch wieder eine Alternative zu Aktien, Unternehmensanleihen und anderen so genannten Risiko-Assets gäbe. Gleichzeitig würden mit den steigenden Zinsen Kosten für Investments, Unternehmensfinanzierungen oder Häuserkäufe erheblich steigen. Viele sich bisher rechnende Investments würden sich nicht mehr lohnen. Die Ertragslage von Unternehmen geriete unter Druck, Häuser wären schwieriger und teurer zu finanzieren und per Formel weniger Wert – ein Szenario, auf das der Markt nach so langer Zeit sinkender, niedriger Zinsen nicht vorbereitet ist.

Uns Deutsche ficht das nicht an. Wir sind in der Regel Sparer und keine Investoren. Und das erklärt zugleich, weshalb gerade wir derart lautstark gegen die mit der niedrigen Inflation einhergehenden Niedrigstzinsen wettern: Wir werden hart von niedrigeren Zinsen getroffen, da unser Erspartes nur wenig Ertrag abwirft. Während in anderen Ländern die gesteigerten Preise für das Eigenheim oder Aktien diesen negativen Effekt auf den Wert das Vermögens mindern oder sogar überkompensieren, besitzen wir Deutschen in den meisten Fällen weder ein Eigenheim noch Aktien. Sich aber quasi am Vorabend steigender Zinsen ob dieses landestypischen Anlageverhaltens auf die Schulter zu klopfen, wäre fehl am Platze. Denn dass steigende Zinsen die ebenso kletternde Teuerung mehr als ausgleichen und das Ersparte real wieder etwas abwirft, wäre die geschichtliche Ausnahme und nicht die Norm. Entscheidend sind für Sparer die Zinsen nach Inflation, Steuern und Kosten.

Man kann es drehen und wenden, wie man will: Anstatt über Magerzinsen zu lamentieren, sollten wir endlich lernen, nicht nur in Bargeld, sondern auch in Sachwerten zu sparen. Denn nur die bieten einen langfristig wirksamen Schutz vor stark steigenden Preisen – oder der Angst davor.


„Inflation: Diese moderne Wirtschaftskrankheit ist zugleich eine der schwersten, und sie ist doppelt gefährlich, weil sie erst in einem fortgeschrittenen Stadium allgemein erkannt zu werden scheint.“
Wilhelm Röpke, Die Lehre von der Wirtschaft

„Aufgrund seiner Geschichte fürchtet Deutschland sich mehr vor der Inflation als vor der Rezession. Im Rest der Welt ist das genau umgekehrt.“
George Soros, amerikanischer Hedgefondsmanager (Quelle: DIE ZEIT)


Co-Autor: Christian von Veltheim (Geschäftsführer CONREN Research)

Co-Autor: Andreas Lesniewicz (Geschäftsführer CONREN Research)


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